Die Achterbahnfahrt des SC Freiburg im DFB-Pokal 2021/22

Der Pokal hat seine eigenen Gesetze. Ein einziges Spiel entscheidet über Ausscheiden und Weiterkommen. David gegen Goliath. David schafft es im Fußball doch immer wieder Goliath zu bezwingen. Speziell im DFB-Pokal erscheint es so, dass es den unterklassigen Vereinen häufig gelingt die Top-Klubs zu ärgern. Wieso ist das so?

Fußballbild; Quelle: wikimedia commons

„Oft grüßt der Zufall, ohne dass wir danken, öfter noch grüßen wir, ohne dass er dankt.“

Emanuel Wertheim

Der Pokal hat seine eigenen Gesetze. Ein einziges Spiel entscheidet über Ausscheiden und Weiterkommen. David gegen Goliath. David schafft es im Fußball doch immer wieder Goliath zu bezwingen. Speziell im DFB-Pokal erscheint es so, dass es den unterklassigen Vereinen häufig gelingt die Top-Klubs zu ärgern. Wieso ist das so?

Dieses „Phänomen“ lässt sich vor allem durch die Spielregeln des DFB-Pokal erklären. Jede Begegnung hat den Charakter eines K.O.-Spiels. Zum einen treffen klare Favoriten hier sehr häufig auf klare Außenseiter. Dies führt schon einmal zu einer Vielzahl an Spielen mit potenziellen Sensationssiegen. Zum anderen muss der Außenseiter nur in einem einzigen Spiel den Favoriten besiegen. Während der Außenseiter bei mehreren Aufeinandertreffen nur sehr geringe Chancen auf ein Weiterkommen hätte, so ist die Wahrscheinlichkeit bei einem Treffen immer gegeben. Dieses sog. Gesetz der kleinen Zahlen lässt sich anhand eines Beispiels aus dem Tischtennis gut veranschaulichen. Spielt man gegen den besten deutschen Tischtennisprofi Timo Boll 1 Punkt, so hat auch ein Amateurspieler aus der Kreisliga ungefähr eine Wahrscheinlichkeit von rund 20 % diesen Punkt zu gewinnen. Für ein ganzes Match über 3-Gewinnsätze hingegen gleicht die Chance ungefähr einem 6er im Lotto. Unabhängig von der eigenen Spielstärke benötigt eine Mannschaft im DFB-Pokal zwangsläufig immer auch eine gewisse Portion Glück. Losglück für möglichst viele Heimspiele und leichte Gegner, aber auch vor allem Glück innerhalb der einzelnen Spiele. Ein unglücklich verlaufendes Spiel, bei dem eine drückende Überlegenheit nicht in Tore umgemünzt wird, kann nicht mehr wett gemacht werden und die Reise im Pokal ist dann beendet. Eine Niederlage gegen einen Außenseiter ist in der Bundesliga für den Favoriten über die weiteren Spiele zu kompensieren. Die Chance auf den Pokalsieg ist durch den Spielmodus auch für den FC Bayern München kleiner als für den deutschen Meistertitel. Insgesamt konnte der Branchenprimus bis dato 32 Meisterschaften und „nur“ 20 Pokalsiege feiern. In den letzten 10 Jahren wurde der FC Bayern München immer Meister, im DFB-Pokal stehen im gleichen Zeitraum hingegen „nur“ 5 Erfolge zu Buche. Selbst der beste Klub Deutschlands blieb im Pokal nicht von Pokalsensationen- die zu seinem Ausscheiden führten-verschont (1990: FV 09 Weinheim, 1994: TSV Vestenbergsgreuth, 2000: 1. FC Magdeburg, 2021: Holstein Kiel).

Die Poisson-Verteilung

Im DFB-Pokal wird vor jeder Runde gelost. Diese zufällige Losung und der „David-gegen-Goliath-Effekt“, welcher durch das Heimrecht der unterklassigen Vereine in der ersten Runde begünstigt wird, lässt für jeden Teilnehmer die Wahrscheinlichkeit für das Weiterkommen in jeder Runde auf 50 % quantifizieren.  Die Chance auf den Sieg in der jeweiligen Pokalrunde und den Pokalsieg lässt sich durch die sogenannte Poisson-Verteilung mit der Annahme, dass pro Spiel 3 Tore fallen (je 1,5 Tore pro Team), kalkulieren. Anhand der Poisson-Verteilung mit den beschriebenen Parametern, lässt sich ein Fußballspiel vor Spielbeginn prognostizieren und nach Spielende analysieren. Das häufigste Ergebnis ist demnach mit 11,2 % an theoretischer Wahrscheinlichkeit ein 1:1-Unentschieden – siehe Tabelle.

Ergebniswahrscheinlichkeiten für ein Fußballspiel über 90 Minuten
Ergebniswahrscheinlichkeiten für ein Fußballspiel über 90 Minuten laut Poisson-Verteilung

In der Praxis war das 1:1-Unentschieden in den elf Spielzeiten 2010/11-2020/21 tatsächlich in 10 von 11 Jahren das häufigste Ergebnis und der relative Anteil betrug 11,4%. Auch der Anteil an Unentschieden, welche bei theoretischen Poissonverteilung 24,3% beträgt, entsprach zwischen den Spielzeiten 2013/14 und 2021/22 auf genau jenen 24,3% mit einem Minimum von 20,9 % einem Maximum von 27,1%.

Wahrscheinlichkeiten für Tordifferenz nach 90 Minuten
Wahrscheinlichkeiten für Tordifferenz nach 90 Minuten laut Poisson-Verteilung

Die Pokalreise des SC Freiburg 2021/2022

Die Poissonverteilung stellt daher für Fußballspiele eine sehr gute theoretische Verteilung dar und kann somit für Prognosen und Analysen verwendet werden. Anhand den Pokalspielen des SC Freiburg in der Saison 2021/22 soll dies exemplarisch aufgezeigt werden. Die Siegwahrscheinlichkeiten in K.O-Spielen im Fußball nach Spielminuten können der folgenden Tabelle entnommen werden:

Siegwahrscheinlichkeiten für ein Fußball-K.O.-Spiel nach Tordifferenz und Minute - reguläre Spielzeit
Siegwahrscheinlichkeiten für ein Fußball-K.O.-Spiel nach Tordifferenz und Minute – reguläre Spielzeit
Siegwahrscheinlichkeiten für ein Fußball-K.O.-Spiel nach Tordifferenz und Minute - Verlängerung
Siegwahrscheinlichkeiten für ein Fußball-K.O.-Spiel nach Tordifferenz und Minute – Verlängerung

Die Pokalreise des SC Freiburg mit den analytischen Werten ist hier nachzulesen:

Spiel- und Pokalsiegwahrscheinlichkeit und -quote nach Pokalrunde und Ereignis - SC Freiburg 2021/2022
Spiel- und Pokalsiegwahrscheinlichkeit und -quote nach Pokalrunde und Ereignis – SC Freiburg 2021/2022

2. Runde: Das Osnabrück-Spiel

Der SC Freiburg und seine Fans haben in der Pokalsaison 2021/22 eine Achterbahnfahrt erlebt. In der zweiten Runde war man in der 119. Minute gegen den VfL Osnabrück bei einem Rückstand von 1:2 eigentlich schon so gut wie ausgeschieden. Die Chance auf das Weiterkommen in Runde 3 betrug zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 0,8 %. Für den Pokalsieg standen sogar nur noch eine Chance von 1:1.951 zu Buche. Doch der SC Freiburg konnte sich durch das Tor von Keven Schlotterbeck tatsächlich noch ins Elfmeterschießen retten. Im Elfmeterschießen verfehlte Höler den ersten Elfmetertreffer. Die soeben noch auf 50%-ige Spielsiegchance (Pokalsieg: 3,1 %), sank hierdurch gleich wieder auf 29,1 % (Pokalsieg: 1,8 %). Das Elfmeterschießen konnte bekanntlich noch gewonnen werden, die Gefühlsachterbahn von Fans und Spieler wird durch die innert Minuten stark schwankenden Chancen gut widergespiegelt (siehe oben).

Achtelfinale: TSG Hoffenheim

Der 4:1-Achtelfinalsieg gegen die TSG Hoffenheim 1899 war souverän. Dieser Sieg mit einer Tordifferenz von mind. 3 Toren entspricht einem P-Value von 7,0 % (siehe unten), d.h. unter gleichstarken Mannschaften schafft es eine bestimmte Mannschaft nur jedes 14. Mal, eine positive Tordifferenz von 3 oder mehr Toren zu erzielen.

P-Values für Tordifferenzen für ein Fußballspiel über 90 Minuten
P-Values für Tordifferenzen für ein Fußballspiel über 90 Minuten

Der Gegentreffer zum 1:2 in der 53.Spielminute reduzierte die Siegchancen nur kurzfristig auf 81,5 %, der Sieg blieb jedoch weitestgehend ungefährdet. Die 5 Tore in diesem Spiel sind zwar gemessen an der reinen Toranzahl überdurchschnittlich, jedoch tritt ein mindestens so torreiches Spiel doch noch jedes knapp sechste Mal auf (18,5 % gemäß folgender Tabelle).

Wahrscheinlichkeit für die Toranzahl nach 90 Minuten
Wahrscheinlichkeit für die Toranzahl nach 90 Minuten

Viertelfinale: VfL Bochum

Das Viertelfinale gegen den VfL Bochum bot hingegen durchgehend viel Spannung. Das 1:0 von Nils Petersen in der 51. Spielminute steigerte die Siegwahrscheinlichkeit für dieses Spiel auf 80,9 %, nur 13 Minuten später egalisierte Polter jedoch den Freiburger Führungstreffer. Das Spiel stand nach 64 Minuten daher ausgeglichen. Die Spannung des Spiels lag darin, dass der Führungstreffer für Freiburg oder Bochum die Siegchance zu diesem späten Zeitpunkt des Spiels auf mind. 86 % gesteigert hätte. Das Tor fiel und fiel jedoch nicht. Als sich (Fernseh-) Zuschauer, Spieler, Fans und Betreuer bereits auf das zweite Elfmeterschießen einstellen, erzielt Sallai in der letzten Minute der Verlängerung das entscheidende 2:1 und schießt den SC damit in das Halbfinale. Der Jubel war grenzenlos. Die Chance auf den Pokalsieg erschien auch durch das Fehlen von Bayern München und Borussia Dortmund nun tatsächlich möglich. Mit RB Leipzig und dem 1. FC Union Berlin standen jedoch noch zwei Bundesligisten und dem Hamburger SV als einzigen Zweitligisten noch bekannte und auch teilweise mindestens ebenbürtige Gegner im Wettbewerb.

Halbfinale: Hamburger SV

Der 3:1-Halbfinalsieg in Hamburg, bei dem wie schon in Bochum wieder zahlreiche Fans den Sportclub unterstützten, geriet nie ernsthaft in Gefahr. Bereits in der 11. Minute als Petersen auf 1:0 stellte, stieg die Siegchance auf 73,3 %, Höler stellte unmittelbar (17. Spielminute) auf 2:0 und damit auf 89,7 % Spielsiegchance, Vincenzo Grifo machte mit seinem 3:0 in der 35. Minute im Prinzip den Deckel drauf (Siegchance: 98,1 %). Der 1:3-Anschlusstreffer in der 88. Spielminute von Glatzel kam zu spät. Freiburg spielte zwar im Anschluss etwas weniger souverän, konnte den Vorsprung aber über die Zeit bringen.

DFB-Pokal-Finale 2022: SC Freiburg – RB Leipzig

„Berlin, Berlin wir fahren nach Berlin“ lautete von nun an die Parole der Freiburger Fans. Das Pokalfinale gegen RB Leipzig im Berliner Olympiastadion stand ein bisschen sinnbildlich für den bisherigen Verlauf des SC im diesjährigen Pokal. Es war eine Achterbahn der Gefühle. Aus Freiburger Sicht war das Glück dem SC nicht hold. Galt man vor dem Spiel als leichter Außenseiter, konnte man das Spiel schnell bestimmen. Das 1:0 durch Eggestein in der 19. Minute münzte diese Überlegenheit auch in Zählbares um. Die Chance auf den Pokalsieg stand mit 74,4 % nun erstmal in Wettbewerb tatsächlich über 50 %. Der SC Freiburg konnte das Spiel in der Folge weiterhin dominant gestalten und war dem so wichtigen zweiten Tor näher als Leipzig dem Ausgleich. Kurz vor Ende der ersten Halbzeit verpasste man nur äußerst knapp das 2:0 und damit die Chance, auf eine Siegchance von 94,0 % zu stellen. Durch den 1-Tore-Vorsprung spielte die fortschreitende Zeit dem SC natürlich in die Karten. Zum Zeitpunkt als Leipzig die Rote Karte gegen Halstenberg verkraften musste, stand die Siegchance dadurch bei 82,7 %. Im weiteren Verlauf konnten Freiburg und Leipzig bis zur 75. Minute kein Tor erzielen. Die für Leipzig damit knapper werdende Zeit erhöhte Freiburgs Chance dennoch auf 90,1 %. In Unterzahl konnte Leipzig jedoch in Person von Nkunku tatsächlich den 1:1-Ausgleich erzielen. Der Spielstand war ausgeglichen, Leipzig in der Folge druckvoller und dem Siegtreffer in der regulären Spielzeit näher. Der „Lucky Punch“ gelang jedoch keinem der Teams. Freiburg dominierte die Verlängerung und hatte durch mehrere Aluminiumtreffer kein Glück im Abschluss. Kein Tor sollte mehr fallen. Das Elfmeterschießen musste den DFB-Pokalsieg entscheiden. Für den SC Freiburg nach dem Spielverlauf, bei dem man nie eine Siegchance von unter 50 % hatte und gar mit bis zu 90,1 % dem Pokalsieg sehr nahe schien, war das bereits eine schnelle und drastische Reduktion der Siegchancen von 90,1 % auf 50 % innerhalb von 45 Minuten.

Leipzig begann das Elfmeterschießen. Torschütze Nkunku brachte Leipzig mit seinem Elfmetertor erstmals in Führung (Siegchance Freiburg: 43,0 %). Petersen und Orban trafen, Freiburgs Kapitän schoss seinen Elfmeter über das Tor. Die resultierende Siegchance lag nur noch bei 19,2 % und damit bereits leicht niedriger als nach Petersens 1:0-Führungstreffer in Bochum. Durch die folgenden Treffer von Olmo und Keven Schlotterbeck betrug die Chance nur noch 15,2 % und damit exakt so hoch wie nach Mesut Özils Fehlschuss im Elfmeterschießen im EM-Viertelfinale 2016 gegen Italien. Im Gegensatz zu der deutschen Nationalmannschaft gelang es Freiburg jedoch leider nicht, diese kleine Chance zu nutzen. Leipzig leistete sich keinen einzigen Fehlschuss und Demirovic hatte bei seinem Aluminiumtreffer kein Glück. Leipzig gewann den DFB-Pokal.

Fazit zur Achterbahnfahrt des SC Freiburg

Was bleibt von dieser turbulenten Pokalreise? Sicherlich die Erkenntnis, dass die Sympathien des Sportclubs in der Republik als Pokalsieger der Herzen nochmals gestiegen sind. Das stimmungsvolle Einstimmen der Freiburger Fans vor dem Pokalfinale und auch die hörbare Unterstützung im Olympiastadion hinterließen einen bleibenden und positiven Eindruck und waren für die Fans vor Ort ein Highlight.

Es bleibt aber auch die Erkenntnis, dass der Fußball und speziell der DFB-Pokal mit seinen „eigenen Gesetzen“ durch die große Portion Glück, die es in den K.O.-Spielen braucht sehr große Schwankungen der Siegchancen und damit auch der Gefühlslage mit sich bringt. Freiburg hatte vor allem in Runde 2 das Glück, welches den Einzug in das Pokalfinale erst ermöglichte. Dieses Glück verließ sie leider im Pokalfinale im Elfmeterschießen. Ein Pokalreise mit emotionalen Tiefen (119. Minute in der 2. Runde gegen den VfL Osnabrück mit einer Pokalsiegchance von 1:1951) und Höhen (Siege gegen TSG Hoffenheim 1899, VfL Bochum und den Hamburger SV in Achtel-,Viertel, und Halbfinale und einer 1:0 Führung inkl. Überzahl im Pokalfinale bis zur 75. Minute mit einer Pokalsiegchance von 90,1 % ) fand im verlorenen Elfmeterschießen ihr bitteres Ende. Statistisch gesehen sank die Siegchance innert 45 Minute von 90,1 % über 50 % vor dem Elfmeterschießen, dem ersten Elfmeterfehlschuss mit 19,2 % nach und nach auf 0 %. Für alle Anhänger des SC ist es eine sehr bittere Niederlage, stand man doch so nah wie nie zuvor vor dem Gewinn eines nationalen Titels. In Anbetracht der Tatsache, dass man im Finale lange auf der Siegerstraße stand, ist die so erfolgreiche Pokalsaison mit einem großen Wermutstropfen verbunden. Ruft man sich die zweite Runde in Erinnerung als man das Pokalaus auch mit Glück abwenden konnte, zeigt sich die Abhängigkeit des Fußballs vom Zufall.

Möchte man die Entwicklung der Pokalsiegchance des SC Freiburg nachvollziehen, so bietet sich hier das Beispiel eines Münzwurfexperimentes an. Der SC brauchte von Osnabrück aus 10-mal nacheinander „Kopf“ für das Erreichen des Pokalfinals, was ihm tatsächlich gelang. Für den Pokalsieg hätte es ein 11. Mal „Kopf“ gebraucht.

Tim Scheffczyk, Data Analyst (M. Sc. Volkswirtschaftslehre)

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