Das Wunder von Bern – Subjektives oder objektives Wunder ?

Ungarn - Deutschland 1954: 2:3

Am Tag des EM-Viertelfinales Spanien – Deutschland jährt sich das „Wunder von Bern“ fast exakt zum 70. Mal (plus ein Tag). Ich freue mich, zu diesem Anlass einen Gastbeitrag von Tim Scheffczyk zum legendären WM-Finale 1954 zwischen Ungarn und Deutschland zu veröffentlichen. Weiterlesen lohnt sich, denn neben Tims stochastischer Expertise gibt es diesmal auch ein Zeitzeugen-Interview! Und los geht’s!

Das „Wunder von Bern“

Die deutsche Fußballnationalmannschaft gewinnt 1954 als Außenseiter das Finale gegen die als goldene Elf betitelte ungarische Nationalmannschaft. Schon vor dem Finale liegt die Favoritenrolle eindeutig bei den seit 32 Spielen ungeschlagenen Ungarn. Nach 8 Minuten führt Ungarn bereits mit 2:0. Doch dann geschieht das “Wunder von Bern”. Deutschland gewinnt das Finale mit 3:2.

Anhand eines Gesprächs mit einem Zeitzeugen sollen dessen subjektiven Einschätzungen der Ereignisse mit objektiven Wahrscheinlichkeiten für das Endspiel bei der Fußballweltmeisterschaft 1954 miteinander verglichen werden. Die objektiven Wahrscheinlichkeiten werden mithilfe von mathematischen Modellen auf Basis einer retrospektiven Analyse erstellt.

Subjektive und objektive Wahrscheinlichkeiten

Subjektive und objektive Bewertungen von Wahrscheinlichkeiten basieren auf unterschiedlichen Grundsätzen. Eine subjektive Wahrscheinlichkeit bezeichnet die Einschätzung einer einzelnen Person über die Chance, dass ein bestimmtes Ereignis eintrifft. Diese persönliche Einschätzung hängt von vielen bewussten, sowie unzählbar vielen unbewussten eigenen Erfahrungen und Faktoren ab.

Demgegenüber steht die objektive Wahrscheinlichkeit. Eine objektive Wahrscheinlichkeit fundiert meist auf einem nachvollziehbaren mathematischen Modell mit klar definierten Faktoren, welche die Berechnung der Wahrscheinlichkeit positiv oder negativ in einem ganz genau bekannten Ausmaß beeinflussen.

Subjektive Wahrscheinlichkeiten sind nicht besser oder schlechter als objektive Wahrscheinlichkeiten. Jeder dieser Ansätze hat Vor- und Nachteile. Die objektiven Wahrscheinlichkeiten sind aufgrund des mathematischen Modellansatzes genau nachvollziehbar. Da die Welt insgesamt und diejenige des Sports im Speziellen jedoch zu komplex ist, um diese durch eine einfach Formel beschreiben zu können, wird ein Modell mit einer objektiven Wahrscheinlichkeit nie in der Lage sein, hochkomplexe Faktoren oder Wechselwirkungen zwischen Variablen zu berücksichtigen. Eine subjektive Wahrscheinlichkeit ist nie genau nachvollziehbar. Eine Person, die eine eigene Wahrscheinlichkeitseinschätzung abgibt, kann mitunter nicht genau sagen, wie sie selbst zu dieser Einschätzung kommt. Der große Vorteil von subjektiven Wahrscheinlichkeiten ist jedoch, dass unzählig viele Faktoren in die Berechnung einfließen können. Einige dieser Faktoren sind der Person explizit bekannt und sie kann diese benennen, andere wiederum fließen unbewusst und implizit in die Wahrscheinlichkeitsberechnung ein. Je nach Anwendungsbereich können subjektive oder objektive Wahrscheinlichkeiten vorteilhaft sein.

Der Zeitzeuge, für den das Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft 1954 als Zehnjähriger die erste Fernsehsendung darstellte, macht mit uns eine Zeitreise und versetzt sich in die damalige Zeit zurück. Die Schilderung der persönlichen Einschätzungen zu dieser Zeit sollen an geeigneter Stelle dem Ansatz eines mathematischen Modells gegenübergestellt werden. Wir gehen der Frage nach, ob sich die subjektiven Erinnerungen und Einschätzungen mit den objektiven Wahrscheinlichkeiten aus mathematischen Modellen decken.

Wir sprechen mit Zeitzeuge Uli. Im Sommer 1954 war er zehn Jahre alt. Er blickte voller Vorfreude auf die Fußballweltmeisterschaft und erlebte das Endspiel heute vor 70 Jahren,  am 4. Juli 1954, erstmals vor dem Fernseher. Schon vor dem Anpfiff war dies für ihn somit ein prägendes Ereignis. Der Finalsieg über die ungarische Wundermannschaft machte aus diesem Tag ein unvergessliches Erlebnis. Für uns erinnert sich Uli nochmals an den Fußballsommer des Jahres 1954 und beantwortet unsere Fragen:

Zeitzeugen-Gespräch zum WM-Finale 1954: Deutschland – Ungarn

Welche Erwartungen hatte man an die deutsche Mannschaft vor dem Turnier?

Uli: Naja, offenbar war Deutschland krasser Außenseiter. Die Deutschen hatten in der Zeit vor der WM keinerlei Anlass zu irgendwelchen Hoffnungen gegeben und deswegen hat sich da wohl niemand was davon versprochen. Ich weiß darüber auch nichts anderes.

Wie wurde die 3:8-Niederlage gegen Ungarn im Vorrundenspiel bewertet?

Vorrunde 1954: Deutschland - Ungarn 3:8, Tore
Vorrunde 1954: Deutschland – Ungarn 3:8, Tore

Uli: Also das war ja ein Spiel, was im Basler St.Jakob-Stadion stattfand und als der Stadionsprecher die deutsche Mannschaftsaufstellung bekannt gab, erscholl von den vielen, rund 25.000 deutschen Zuschauern ein Pfeifkonzert, weil das war eben nicht die beste Mannschaft sondern eine schlechtere und da waren die natürlich enttäuscht. Das Ganze war von Herberger taktisch ausgedacht, denn in diesem frühen Stadium des Turniers hat er sich keinerlei Chancen ausgerechnet und wollte deshalb lieber das Spiel verlieren und sich ganz auf das nachfolgende Ausscheidungsspiel gegen die Türkei konzentrieren. Das haben die Zuschauer natürlich nicht gewusst und ich weiß, dass das dann in der Folge sehr viel diskutiert wurde. Ob das aber die Fans in den Tagen danach überzeugt hat, weiß ich nicht genau. Ich glaube eher, dass man es dem Herberger eine Zeitlang übel genommen hat, aber wie das Turnier dann weiterging, wurde die Stimmung ihm gegenüber immer besser.

Wie war die Stimmung und die Einschätzung der Chancen vor dem Finale?

WM-Finale 1954 Deutschland - Ungarn: Spielinfos, Aufstellungen, Schiedsrichter
WM-Finale 1954 Deutschland – Ungarn, „Wunder von Bern“: Spielinfos, Aufstellungen, Schiedsrichter

Uli: Deutschland war zwar Außenseiter, aber ich gehe davon aus, dass sich durch den Verlauf des Turniers die krasse Außenseiterrolle ein bisschen abgemildert hat. Immerhin hat Deutschland ja im Halbfinale gegen Österreich ja 6:1 gewonnen und dabei sehr gut gespielt. Ungarn ist seiner Favoritenrolle gerecht geworden, aber hat jetzt die Gegner im Viertel- und Halbfinale auch nicht gerade überrollt, also irgendwie habe ich so das Gefühl, dass man schon Hoffnungen hatte, Deutschland könnte eine Überraschung schaffen. Ich könnte mir das so ähnlich vorstellen, wie es war, als Griechenland Europameister wurde. Das war glaube ich in Portugal. Griechenland war ja ein mindestens so großer Außenseiter wie Deutschland 1954. Die griechische Mannschaft hat aber im Verlauf des Turniers überraschend stark die Gegner weggeputzt und da war es wahrscheinlich auch so, dass der Endspielgegner-ich weiss nicht mehr wer das war-das zwar deutlich Favorit war aber dass man gedacht hat: “Naja, wer weiß” und so ein bisschen stelle ich mir das auch für 1954 vor. Ich glaube auch nicht, dass ich selbst als Zehnjähriger-als ich dann mit meinem Patenonkel, da zum Fernsehen in die Wirtschaft ging- das Gefühl hatte: Wir sind nur ein Opferlamm. Man hat sich ja schon Hoffnungen gemacht, dass Deutschland gewinnen könnte.

Deutschland – Ungarn, WM-Finale 1954: Objektive Wahrscheinlichkeiten

Vor dem Endspiel war Ungarn fast 4 Jahre lang und 32 Pflichtspiele in Folge ungeschlagen. Eine solche Serie an Siegen ist nur dann realistisch, wenn die Wahrscheinlichkeit für eine Niederlage sehr klein ist. Diese Wahrscheinlichkeit ist klein, aber nicht 0. Ein konservativer Ansatz zur Berechnung der Wahrscheinlichkeit einer Niederlage bei einer Serie an ungeschlagenen Spielen ist die Probability-at-risk. Hier geht man davon aus, dass die ungarische Wunderelf bei ihrer Serie viel Glück gehabt hat und mit den 32 ungeschlagenen Spielen etwas erreicht hat, was selbst diese Wunderelf nur jedes 20. Mal schafft. Unter dieser Annahme beträgt die Wahrscheinlichkeit für eine Niederlage der ungarischen Mannschaft unabhängig vom Gegner 8,94 % oder anders ausgedrückt einer Quote von 1:11,19.

Hier fließen lediglich objektive Faktoren in diese Kalkulationen mit ein. Subjektive Faktoren oder Thesen bleiben hier außen vor. Sepp Herberger sagte der Legende nach beim einsetzenden Regen vor Spielbeginn: “Fritz, Ihr Wetter”. Mannschaftskapitän Fritz Walter war nämlich bekannt dafür, im Regen zur Hochform aufzulaufen. Die These, dass sich die neue Stollen-Technologie der Adidas-Schuhe der deutschen Nationalmannschafts positiv auf die deutschen Siegchancen auswirkte, ist ebenfalls kein objektiver Faktor. Zum einen ist die Wirkung beider Thesen nicht belegbar, zum anderen wäre der genaue Effekt auf die Siegchance nicht messbar.

WM-Finale 1954, Deutschland – Ungarn: Torfolge, Emotionen

Welche persönlichen Emotionen bei Dir und bei den anderen Zuschauern gab es nach dem 0:2-Rückstand?

WM-Finale 1954, Deutschland - Ungarn: Tore
WM-Finale 1954, „Wunder von Bern“, Deutschland – Ungarn: Tore

Uli: Naja das kann man sich ja vorstellen. Da die Hoffnungen auf einen Sieg ohnehin höchstens klein waren, hat man natürlich gedacht: Na jetzt kommt es halt so wie es kommen musste. Jetzt kriegt man eine kalte Dusche und hat möglicherweise auch das 3:8 im Kopf gehabt. Also ich glaube nicht, dass nach diesem frühen Torrückstand viele Zuschauer auf die Deutschen noch einen Pfifferling gegeben hätten. Allerdings ist ja dann das 1:2 eine Minute später schon gefallen und da sah das natürlich wieder anders aus. Also wenn man den Anschlusstreffer geschossen hat, dann kann es auch einen Ausgleich geben, sodass wahrscheinlich bei allen Zuschauern im Stadion oder zuhause die Stimmung nicht so hoffnungslos war, nachdem es dann mal 1:2 stand, sondern dann hat man wieder gedacht: “Mal gucken, was David gegen Goliath machen kann”.

Bei heutigen professionellen Fußballspielen fallen im Schnitt 3 Tore pro Spiel. Bei gleichstarken Teams ist ein 0:2-Rückstand nach 10 Minuten in einem K.O.-Spiel mit einer Siegwahrscheinlichkeit von lediglich 11,3% bzw. einer Quote von 1:8,86 gleichzusetzen. Es gibt keine validen Daten für die Anzahl an Toren für ein WM-Spiel im Jahre 1954. Es ist jedoch festzustellen, dass pro Partie mehr als 3 Tore gefallen sind. Die modelltheoretische Wahrscheinlichkeit von 11,3 % für ein heutiges professionelles Fußballspiel ist also für 1954 zu tief, da ein Rückstand durch die höhere Anzahl an Toren häufiger noch aufgeholt werden konnte. Daher stellt die ermittelte Wahrscheinlichkeit von 11,3 % eine Mindestwahrscheinlichkeit für gleichstarke Teams in dieser Zeit dar. Der direkte Anschlusstreffer in Minute 10 steigerte die Siegchchance ohne Berücksichtigung der ungarischen Favoritenrolle auf 26,2%.

Berücksichtigt man neben der 2:0-Führung in der 10. Minute auch noch deren klare Favoritenrolle, so ergibt sich eine noch deutlich höhere Siegchance der Ungarn als noch vor Spielbeginn. Verbindet man die Favoritenrolle der Ungarn mit deren 2:0-Vorsprung, so ergab sich schätzungsweise eine Siegchance von 98,8 %. Deutschlands Titelchancen beliefen sich in der 10. Minute also nur auf rund 1,2 %. Solch eine kleine Chance wurde in großen Spielen sehr sehr selten genutzt. Ein Beispiel hierfür ist der Champions-League-Sieg des FC Liverpool gegen den AC Mailand nach einem 0:3-Rückstand zur Halbzeitpause.

Der deutsche Anschlusstreffer steigerte die Siegchchance unter der Berücksichtigung der Favoritenrolle der Ungarn von 1,2% auf 3,6%.

Wie hat man das Spiel in den Tagen danach bewertet? Direkt schon als Wunder von Bern?

Uli: In einem Buch über die WM 1954, was ich hier vorliegen habe, taucht der Begriff Wunder nicht auf, also diesen Terminus Wunder von Bern gab es damals wohl nicht. Das Buch ist ja nach dem Spielen geschrieben worden. Also ein “Wunder” hat man nicht gesehen. Es war klar, dass Deutschland als Außenseiter die eigentlich besseren Ungarn geschlagen hatte. In der internationalen Presse, die da zum Teil wiedergegeben ist, taucht in Bezug auf den Sieg der Deutschen häufig mal der Begriff “verdienter Sieg der Deutschen” auf. Es wurde wohl als Fehler angesehen, dass der ungarische Trainer den Puskas trotz einer zuvor erlittenen Verletzung hat auflaufen lassen. Also in Deutschland wurde das nicht so bewertet, dass die eigene Mannschaft hier nur Glück gehabt hätte, sondern dass sie es eben verdient oder jedenfalls nicht unverdient das Spiel gewonnen hatte. Gleichzeitig hat man natürlich von der Erstarkung des deutschen Fußballs gesprochen, was sich ja dann auch in der Folge bewahrheitet hat. Die deutsche Nationalmannschaft hat ab dem Moment eine gute Rolle im internationalen Fußball gespielt.

WM-Finale 1954: „Wunder“ von Bern? Fazit

Die WM-Niederlage Ungarn gegen Deutschland war auf jeden Fall eine Sensation. Vor dem Endspiel waren die Siegchancen der Deutschen jedoch nicht so klein, wie oftmals angenommen wird. Aus objektiver Sicht war Ungarn 32 Spiele ungeschlagen, hieraus resultiert jedoch noch eine Mindestchance der deutschen Mannschaft in Höhe von 8,94 % . Rein subjektiv schilderte unser Zeitzeuge eindrücklich, dass die Spielweise und die positiven Ergebnisse der Deutschen in den entscheidenden Spielen die Hoffnung auf den ersten WM-Titel größer werden ließ. Ein Wunder war es dann sowohl subjektiv aber auch objektiv tatsächlich, dass der 0:2-Rückstand noch gedreht werden konnte. Denn wenn der hohe Favorit, in dem Falle Ungarn auch noch deutlich führt, so verringert das die ohnehin schon geringen Chancen auf ein Minimum. Unser Zeitzeuge spricht hier davon, dass zu diesem Zeitpunkt niemand mehr “einen Pfifferling auf Deutschland” gesetzt hätte. Auch die objektive Wahrscheinlichkeit betrug in diesem Moment lediglich 1,2%. Die Bruttowettquote der deutschen Nationalmannschaft würde man in der 10. Spielminute beim Stand von 0:2 heute schätzungsweise auf 81,06 taxieren. Der Finalsieg gegen Ungarn war vor dem Spiel eine große Überraschung, nach dem 0:2-Rückstand und der anschließenden Aufholjagd ist der Begriff Wunder auch statistisch betrachtet gerechtfertigt, da solch eine Beschreibung auf solch unwahrscheinliche Ereignisse rein statistisch zutreffend ist.

© Tim Scheffczyk, Data Scientist (M. Sc. Volkswirtschaftslehre)

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