Die Medien konfrontieren uns täglich mit einer Vielzahl statistischer Kennwerte. Einerseits helfen sie uns dabei, uns eine Vorstellung von der Welt zu machen und Vergleiche zu ziehen. Andererseits ist auch eine verständliche Skepsis gegenüber der Statistik verbreitet („Traue keiner Statistik, die Du …“).
Ich halte eine pauschale Ablehnung von Zahlenwerk in der heutigen Welt für wenig hilfreich (natürlich bin ich beruflich vorbelastet …). Sinnvoller finde ich es, die Aussagekraft statistischer Kennwerte zu hinterfragen. Ein Beispiel, bei dem sich das lohnt, ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das nach wie vor häufig als Wohlstandsindikator verwendet wird (vgl. Artikel auf diesem Blog zum Stichwort BIP). Definiert ist es als Summe aller Güter und Dienstleistungen, die in einem Jahr in einem Land (oder einer Staatengemeinschaft, einer Region, …) als Endprodukte erzeugt werden (hier ein Link zur exakten Definition im Gabler Wirtschaftslexikon). Die einfache Annahme beim Vergleich des BIP zwischen verschiedenen Ländern (Regionen, …) lautet: Je höher das BIP, desto höher der Wohlstand, desto besser geht es den Menschen.
Ganz so einfach ist es jedoch nicht. Nur ein paar Stichpunkte:
Zur Definition: Das BIP misst gar nicht alle in einem Jahr produzierten Güter und Dienstleistungen einer Volkswirtschaft, sondern nur eine Teilmenge davon. Diese schwankt auch noch von Jahr zu Jahr und von Volkswirtschaft zu Volkswirtschaft ganz erheblich. Die entscheidende Einschränkung lautet: Güter und Dienstleistungen, die gegen Geld gehandelt werden. Vorteil: Äpfel und Birnen sind buchstäblich vergleich- und addierbar.
Nachteile dieses Systems:
- Führt man keine Preisbereinigung durch, dann steigt das BIP bereits, wenn die Preise steigen (Inflation), ohne dass mehr Güter und Dienstleistungen erzeugt werden.
- Güter und Dienstleistungen, die nicht gegen Geld gehandelt werden, werden nicht erfasst, z. B. Eigenreparaturen, unentgeltliche Hausarbeit etc.
Einfaches Beispiel: mähen wir selbst den Rasen, bleibt das BIP konstant. Geben wir dem Nachbarn 20 Euro fürs Rasenmähen, steigt das BIP um 20 Euro. Das Ergebnis ist in beiden Fällen gleich: ein frisch gemähter Rasen.
Weitere Überlegungen:
- Schwarzarbeit wird ebenfalls nicht erfasst, obwohl sie (in der Regel) bezahlt wird und Werte schafft.
- Staatssektor: Je unwirtschaftlicher und ineffizienter die Staatsbürokratie arbeitet, desto höher das Sozialprodukt.
- Das Problem der Vorleistungen: oben war von Endprodukten die Rede. Vorleistungen werden also vom Sozialprodukt abgezogen. Nur – wie definiert man die Vorleistungen? Die Dienste von Polizei, Justiz und Feuerwehr etwa werden zum Sozialprodukt gezählt; man kann sie aber als Vorleistungen für die eigentlichen Ziele Friede, Ordnung, Sicherheit auffassen.
Konsequenz: Die Aufräumarbeiten nach Katastrophen wie Ölteppichen, Erdbeben etc. erhöhen das Sozialprodukt, obwohl es den Menschen ohne die Katastrophe samt aller damit verbundenen Aufwendungen besser ginge. Das BIP steigt auch, wenn die Zahl der Autounfälle steigt. - Das BIP ist neutral – es unterscheidet nicht, ob ein Produkt den Mitmenschen und der Umwelt nutzt oder schadet.
- Die Verteilung des Wohlstands ist nicht berücksichtigt.
Solche Überlegungen sind sehr anschaulich in dem empfehlenswerten Werk von Walter Krämer So lügt man mit Statistik beschrieben.
Robert Kennedy wird mit den Worten zitiert:
„Das Bruttoinlandsprodukt misst alles, außer dem, was das Leben lebenswert macht.“
Trotz der offensichtlichen Kritikpunkte hat sich noch keine überzeugende Alternative durchsetzen können.
Ein aktuelles Werk stammt von Hans Diefenbacher und Roland Zieschank und heißtWoran sich Wohlstand wirklich messen lässt.
Ein Gedanke zu „Statistische Kennzahlen hinterfragen: Das Beispiel BIP (Bruttoinlandsprodukt)“